Trend Insights Energie: Über Gamechanger-Kompetenzen und Kompetenzlücken in der Energiebranche
Immer wieder geben wir euch Einblicke in unser Trendradar, dessen Inhalt von den unterschiedlichsten Branchenexperten bewertet wird. Wir greifen die Bewertungen in vertiefenden Gesprächen auf und präsentieren sie euch hier in dieser Form. Dieses Mal haben wir mit Peter-Patrick Baumgartner gesprochen, und zwar über Veränderungen in der Energiebranche.
Peter-Patrick Baumgartner war unter anderem jahrelang bei ILF Consulting Engineers in den unterschiedlichsten Funktionen international tätig, etwa als Geschäftsführer und Aufsichtsrat und als Shareholder-Vertreter für alle Firmen in Nord- und Südamerika. 2016 kam es zur Gründung des Green Energy Center Europe in Innsbruck, einer privatwirtschaftlichen Initiative zur Förderung energieeffizienter und sauberer Technologien, die Brücken zwischen industriellen Akteuren und Start-ups baut. Als Mitbegründer des Green Energy Center ist er seit 2020 als Chief Sales Officer bei der FEN Sustain Systems GmbH, die Unternehmen auf ihrem Weg zu mehr Autonomie und Nachhaltigkeit in Sachen Klima, Energie und Ressourcen unterstützt. Im Februar 2021 gründete er – gemeinsam mit anderen erfahrenen Geschäftsleuten – die Boutique-Beratung Atlanto, die Unternehmen in den Schlüsselbereichen Wachstum, Venture Building, Life Science, Disruption, techno-ökonomische Schnittstellen und Übernahmen begleitet.
Langer Rede, kurzer Sinn: Der Mann ist vielseitig. Und er kennt sich aus. Erfahrt hier unter anderem:
Verschiedenes über kritische, anspruchsvolle Infrastrukturen, die die Branche trotz steigenden Risikoniveaus gut im Griff hat;
warum Energieeffizienz in der heutigen Energiewirtschaft überbewertet wird;
weshalb es klug ist, die Energiebranche in mindestens zwei Kategorien zu unterteilen;
wie es gelingen kann, für Top-Talente anziehend zu bleiben.
Erfolg muss für die Energiewirtschaft definiert werden! Er kann nicht allein über den Umsatz oder den Anteil an der Marktkapitalisierung definiert werden.
in-manas: Peter, vielen Dank für die Zeit, die du dir für die Bewertung des Radars genommen haben. Die Ergebnisse zeigen insgesamt ein spannendes Bild. Vieles liegt „im grünen Bereich“. Das heißt, die Energiebranche scheint bei vielen einflussreichen Trends über gute Kompetenzen zu verfügen. Vielleicht beginnen wir mit dem Megatrend „Sicherheit & Transparenz“. Warum siehst du darin eine Gamechanger-Kompetenz?
GAMECHANGER-KOMPETENZ: Sicherheit & Transparenz
P.-P. Baumgartner: Die meisten Energieinfrastrukturen, insbesondere zentralisierte Systeme und internationale Netze, bilden das Rückgrat eines funktionierenden modernen Lebens – von der Wirtschaft bis zur Sicherheit, vom Wohnen bis zur Mobilität. Insofern handelt es sich bei den meisten um kritische und anspruchsvolle Infrastrukturen, die als solche ein hohes Maß an Schutz vor Störungen erfordern. Das allgemeine Risikoniveau scheint zu steigen – Stichworte extreme Wetterereignisse, Cyberangriffe und geopolitische Entwicklungen –, sodass das Thema Energiesicherheit verstärkt im Fokus der Bemühungen steht. Die durch die zunehmenden geopolitischen und wirtschaftlichen Spannungen entstehenden Risiken und die damit verbundenen Sicherheitsaspekte sind der Energiewirtschaft aber bekannt. Und es ist zu erwarten, dass die Branche weiterhin in die Sicherheit investieren wird. Das allgemeine Interesse am Thema, auch am Schutz von Vermögenswerten, wird also fortbestehen. Und hier hat die Energiebranche viel zu bieten und verfügt tendenziell über hohe Kompetenzen.
in-manas: Kommen wir zu den nächsten Gamechanger-Kompetenzen. Laut deinen Einschätzungen sind die drei Makrotrends „Energieeffizienz“, „Innovative Energieübertragung & -verteilung“ sowie „Innovative Energieerzeugung“ „im grünen Bereich“ angesiedelt. Was kannst du uns dazu sagen?
GAMECHANGER-KOMPETENZEN: Energieeffizienz | Innovative Energieerzeugung | Innovative Energieübertragung & -verteilung
P.-P. Baumgartner: Was oft übersehen wird, ist die Tatsache, dass Energieeffizienz in der heutigen Energiewirtschaft nicht das Wichtigste ist. Dennoch ist es von großer Bedeutung, eine maximale Effizienz innerhalb ausgewählter (!) Segmente anzustreben, beispielsweise im Schwerlastverkehr. Der klassische fossile Verbrennungsmotor und damit verbundene WTW-Betrachtungen (WTW steht für Well to Wheel, also vom Bohrloch bis zum Rad) zeigen, wie ineffizient hocheffiziente Motoren eigentlich sind. Die Effizienz in solchen Bereichen weiterhin auszubauen – und zwar in Bezug auf neue Methoden für nachhaltige Energie – ist also sinnvoll. Im Privatbereich hat hingegen die einfache Aussage „Erst zu Fuß gehen oder das Fahrrad nehmen, dann die öffentlichen Verkehrsmittel und zuletzt das Auto oder das Flugzeug verwenden“ nach wie vor seine Gültigkeit.
in-manas: Das heißt, auf die gesamte Energiebranche bezogen siehst du mehr Sinn darin, die Effizienz der erneuerbaren Energieerzeugung, des ‑transports und der ‑speicherung zu steigern.
P.-P. Baumgartner: Ja, genau! Und insbesondere im Bereich der Energieerzeugung tut sich sehr viel. Hier wird aus zahlreichen Quellen – von Geothermie über Photovoltaik, Wind, Gezeiten, Biomasse, fossile Brennstoffe und Wasserkraft bis hin zu Kernenergie – eine Vielfalt gebildet, die das Rückgrat der Energieerzeugung von morgen sein wird. Die Verheißung liegt in den vielen variablen Formen und Verbindungen, die komplexe, aber auch sehr maßvolle und dezentrale Optionen bieten werden. Ein idealer Bereich für Innovationen also.
Zum Thema Energieübertragung und -verteilung lässt sich Folgendes sagen: Hier müssen wir intelligenter, dezentraler und bidirektionaler werden. Es braucht also mehr an die Netzebene der Energieverteilung gekoppelte Verbraucher, damit verstärkt überschüssige Energien zurückgeleitet werden können. Auch das Thema Netzstabilität muss ein klares Ziel sein. Kleinstnetze, starke Energiemärkte und effiziente Innovationen werden von der relativ hohen Kompetenz der weltweit vernetzten Energiemärkte profitieren. Ein Nachteil ist das hohe Maß an Regulierung und der daraus resultierende Mangel an innovativen Optionen für viele Energieakteure. Hier müssen also neue Marktmodelle und Regularien die notwendigen Rahmenbedingungen schaffen.
in-manas: Nun klingt vieles – wie du ja selbst sagst – sehr verheißungsvoll. Dennoch schneidet der Megatrend „Energie, Klimawandel & Nachhaltigkeit“ insgesamt schlecht ab und liegt in unserer Matrix „im roten Bereich“, also im rechten unteren Quadranten. Wie kommt das?
ERFOLGSKRITISCHE KOMPETENZLÜCKE: Energie, Klimawandel & Nachhaltigkeit
P.-P. Baumgartner: Eine große Kluft bzw. Frage ergibt sich aus der Tatsache, dass die Interessen und Triebkräfte für wirtschaftlichen Erfolg und Marktanteile zu einer umstrittenen und konträren Positionierung der Marktteilnehmer führen. Nehmen wir einen einfachen Gegensatz – fossile versus grüne Energie:
Einerseits wetteifern die marktbeherrschenden nationalen Öl- und Gasunternehmen (die NOCs, also National Oil Companies), die in vielen Fällen die einzigen Hauptverdiener in ihren jeweiligen Volkswirtschaften sind, sowie viele internationale Öl- und Gasunternehmen (IOCs, also International Oil Companies) darum, ihre Rentabilität im Bereich der fossilen Energie zu sichern.
Andererseits werden die Bemühungen um die Schaffung grünerer und nachhaltigerer Energiesysteme weitgehend durch einen politischen und wählerbezogenen Megatrend zur Eindämmung der CO₂-Emissionen gefördert.
Diese gegensätzlichen, parallelen Trends führen zu einer enormen Branchendynamik, wie sie weltweit seit vielen Jahrzehnten nicht mehr zu beobachten war. Daher liegen große Risiken und große Chancen in der Bewertung dicht beieinander. Es ist wahrscheinlich klug, die Energiebranche in mindestens zwei Kategorien zu unterteilen, die sich auf beiden Seiten dieser Gleichung wiederfinden. Das heißt: Erfolg muss für die Energiewirtschaft definiert werden! Er kann nicht allein über den Umsatz oder den Anteil an der Marktkapitalisierung definiert werden.
Kriterien, die durch die Stärkung von ESG-Ansätzen hervorgehoben werden, führen die Definition in Richtung Umweltverträglichkeit, Soziales und gute Unternehmensführung. In der gesamten Energiebranche gibt es sowohl Vorreiter als auch Nachzügler. Es gibt Pionierunternehmen im Energiesektor und in verwandten Bereichen wie der Mobilität, die strategische Veränderungen anstreben. Gleichzeitig sind die Preise für Energie und die zugrunde liegenden Ressourcen nach wie vor unbeständig. Und einige Marktteilnehmer halten sich zurück und verzögern den Wandel in dieser Branche, der geopolitisch und global ist, wodurch sie sich aufgrund der massiven Infrastrukturen, die diese nicht virtuelle Welt trägt, nur langsam verändert.
in-manas: Und der Makrotrend „Energiespeicherung“ trägt wohl auch dazu bei, dass das Thema insgesamt im kritischen Bereich angesiedelt ist.
P.-P. Baumgartner: Richtig. Die Energiespeicherung bleibt eine große Herausforderung für die Industrie. Die meisten elektrischen Speicher, die derzeit für das Netz zugänglich sind, sind Wasserkraftspeicher, sogenannte Pumpspeicherkraftwerke. Diese Speichertechnologie erfordert jedoch einen entsprechenden Höhenunterschied wie Gebirge, den aber flache Länder wie die Niederlande nicht bieten können. Diese Technologie ist daher in ihrer Ausdehnung begrenzt, abgesehen von Umweltbedenken im Kontext der erheblichen Auswirkungen dieser Anlagen.
Der Großteil der Gasspeicherung erfolgt in onshore unterirdischen Gasspeicheranlagen, dasselbe gilt für Öl. Die Batteriespeicherung ist ein wichtiger Faktor für die Mobilität, und die bidirektionale Aufladung ist ein vielversprechender Ansatz für Mikronetzszenarien. Große Batteriespeicherprojekte zur Speicherung großer Mengen an (erneuerbarer) Energie scheinen nicht in der Lage zu sein, die Energiemenge zu kompensieren, die gespeichert werden muss, um eines der folgenden Ziele zu erreichen:
strategische Speicherung, etwa für Konfliktzeiten und extreme Wetterereignisse;
tägliche Speicherung zum Ausgleich von Diskrepanzen zwischen Erzeugung und Verbrauch, beispielsweise wenn erneuerbare Energien zu viel oder zu wenig Strom produzieren, Stichwort Dunkelflaute;
saisonale Speicherung - also die Speicherung der Sommerproduktion für die Wintermonate, wenn zum Beispiel die Sonnenenergie begrenzt ist.
Daher werden Speicherlösungen wie Wasserstoff, Ammoniak usw. intensiv untersucht. Das Problem dabei ist, dass die Dynamik der Energieerzeugung und des Energieverbrauchs sehr hoch ist, man denke nur an erneuerbare Energien und Elektroautos. Gleichzeitig hinken die Veränderungen bei der Speicherung hinterher, was sowohl die künftige Netzstabilität als auch die Aufrechterhaltung der Geschwindigkeit dieser Entwicklungen, die große Speicherlösungen erfordern, gefährdet!
in-manas: Große Herausforderungen also. Es gibt noch viele offene Megatrends wie „Urbanisierung“, „Digital vernetzte Produkte“ oder „Künstliche Intelligenz“, die allesamt einen Einfluss auf die Energiebranche haben. Diese Punkte würden wir sehr gerne in einem weiteren Gespräch vertiefen. Was uns aber zum Abschluss noch interessiert, weil ja hinter den vielen laufend benötigten Innovationen immer kreative Menschen stehen: Warum glaubst du, dass die Energiebranche über einen wertvollen Kompetenzvorsprung beim Trend Arbeits- und Lernwelten der Zukunft verfügt?
WERTVOLLER KOMPETENZVORSPRUNG: Arbeits- und Lernwelten der Zukunft
P.-P. Baumgartner: Die Arbeitskräfte von heute wollen etwas bewirken und einen Sinn in ihrer Arbeit finden! Da einer der produktivsten und existenziellsten globalen Megatrends darin besteht, die katastrophalen Auswirkungen des Klimawandels zu vermeiden, wird die Absicht, die Welt zu retten und eine entsprechende Lebensweise zu führen, weiterhin Top-Talente anziehen! So wird die Energiebranche im weiteren Sinne von diesem Wunsch profitieren, Teil eines positiven Wandels hin zu einer nachhaltigeren und grüneren Welt zu sein. Die Branche muss diesem Interesse mit neuen Arbeitsformaten begegnen, sich öffnen und innerhalb der Grenzen der oft stark regulierten Energiewirtschaft auf Erneuerung hinarbeiten. Im Kampf um Talente ist es daher von entscheidender Bedeutung, dass viele junge Menschen einen Zweck finden. Und die Energiewirtschaft hat den Vorteil, dass sie in Bezug auf den Klimawandel und den damit verbundenen Klimaschutzmaßnahmen genau im Zentrum des Bewusstseins steht. Solange überregulierende und überholte Ansätze vermieden werden, wird die Branche in der Lage sein, Talente anzuziehen und zu halten, um viele der dringendsten Probleme unseres Planeten zu lösen.
in-manas: Vielen Dank für das Gespräch und deine Zeit, Peter! Wir freuen uns schon auf den zweiten Teil deiner spannenden Ausführungen. Und bis dahin können sich unsere Leserinnen und Leser in unserem Energie-Hub "up2date" halten.
Beste Grüße aus dem INNO-VERSE
Das gesamte in-manas-Team
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