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Unterschiede zwischen disruptiven und inkrementellen Innovationen

Aktualisiert: 17. März 2023


Planzentrieb und leuchte Glühbirne

Wie kommt das Neue in die Welt? In einem Gastbeitrag für INNO-VERSE erläutert Professor Michael Mirow, langjähriger Verantwortlicher für die weltweite Unternehmensstrategie von Siemens, inkrementelle und disruptive Innovation anhand verschiedener Innovationsbeispiele.



Inhaltsübersicht



Die Kraft des Neuen


Innovationen in der Wissenschaft dienen vor allem dem Erkenntnisgewinn. Für Wirtschaftsunternehmen zielt das Neue auf einen Vorteil im Wettbewerb. Wie weit aber ist das Neue planbar oder gar organisierbar? Diese Frage mutet zunächst wie ein inhärenter Widerspruch an. Wenn Innovation planbar wäre, wäre es keine Innovation mehr, und wenn sie organisierbar wäre, müsste man ja schon vorher wissen, was zu organisieren ist. Was ist also das Neue?


Ein pragmatischer Ausweg aus diesem logischen Dilemma bietet sich an mit der Unterscheidung zwischen inkrementellen und disruptiven Innovationen.


Definition: Inkrementelle Innovation


Unter inkrementellen Innovationen verstehen wir die Weiterentwicklung bestehender Produkte, z.B. der iPhones von Apple (iPhone 8, X, 11, 12 etc.) oder der Smartphones von Samsung, eines konventionellen Automobils, eines Softwarereleases für einen Laptop oder einer Speicher-programmierbaren Steuerung, der Rezeptur für ein Haar-Shampoo oder ein Müsli.


Die Entwicklungsziele sind dabei klar definiert, es gibt Erfahrungswerte für den Aufwand, bestimmte Meilensteine zu erreichen, Abbruchkriterien können definiert und Abläufe organisiert werden. Die Zusammenarbeit z.B. zwischen Fertigung und Marketing ist eingespielt, Geschäftspläne werden entwickelt und Ergebnisse kontrolliert. Auf eine kurze Formel gebracht, geht es hier um die Extrapolation des Bekannten.


Definition: Disruptive Innovation


Eine ganz andere Welt eröffnet sich bei disruptiven Innovationen. Hier geht es um neue Produkte, neue Anwendungen, neue technische Lösungen, neue Märkte und neue Geschäftsmodelle.


Ein gutes Beispiel ist das iPhone von Apple, das die konventionellen Mobiltelefone durch einen tragbaren und vernetzten Computer ablöste und damit den bisherigen Weltmarktführer für Mobiltelefone – Nokia – in kürzester Zeit der Bedeutungslosigkeit überließ.


Die Entwicklung des Automobils und der Eisenbahn, des Schießpulvers oder der mechanischen Webstühle, des Morsetelegraphen, des Dynamoprinzips zur Erzeugung von Elektrizität (und seine Umkehrung in Gestalt des Elektromotors) oder die Erfindung der Glühbirne sind nur einige von vielen Beispielen disruptiver Innovation, die unser Leben in vorher unvorstellbarem Ausmaß beeinflusst haben.


 

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Disruptive Innovationen sind definitionsgemäß nicht planbar. Wenn man schon wüsste, was dabei herauskommt, wäre es ja nicht mehr disruptiv.


Es geht um die Eroberung des Unbekannten. Das heißt allerdings nicht, dass sie sich auch jeder Organisierbarkeit entziehen. Organisation bedeutet in diesem Zusammenhang aber eher, einen Rahmen für einen möglichst großen Freiraum, für einen eher „unorganisierten“ Zustand zu schaffen, indem zumindest ein Teil des Regelwerks eines etablierten Unternehmens für das tägliche Tun – wie Arbeitszeiten, Arbeitsorte, Organisationsmittel oder auch projektbezogene Budgets – außer Kraft gesetzt wird. Nur dann hat das Neue eine Chance, zu entstehen und sich gegebenenfalls zu bewähren.


Allerdings muss auch hier die Balance gewahrt werden. Der Kontext zum Leitbild des Unternehmens muss in Form eines – wenn auch weit gespannten – inhaltlichen Rahmens erhalten bleiben.


So kann z.B. für die Entwickler in einem Halbleiterunternehmen als Forschungsrichtung die Molekularbiologie vorgegeben werden, um zu verstehen, wie menschliche und tierische Gehirne funktionieren, oder für ein Automobilunternehmen – über das einzelne Fahrzeug hinaus – die Gesamtsicht auf die individuelle Mobilität in einer Gesellschaft.


Wenig sinnvoll wäre es hingegen für eine Siemens AG, sich etwa in der Nahrungsmittelforschung zu versuchen. Wie eng oder weit dieser Rahmen gespannt wird, entzieht sich einer objektiven Beurteilung.


Sicherlich ein extremes Beispiel war 1990 die Entscheidung der ehemaligen Mannesmann AG, eine Lizenz zum Aufbau eines Mobilfunknetzes in Deutschland zu erwerben. Die Anfänge von Mannesmann reichen bis in die 1880er-Jahre zurück mit der Entwicklung eines neuen Verfahrens zur Herstellung nahtloser Röhren. Darauf aufbauend entwickelte sich Mannesmann im Verein mit den Stahlwerken Salzgitter zu einem der weltweit führenden Maschinen- und Anlagenbauer. Mit dem Erwerb einer Lizenz für den völlig abseits aller bisherigen Geschäftsmodelle liegenden Aufbau und Betrieb eines bald sehr profitablen Mobilfunknetzes in Deutschland entfernte sich das Unternehmen so weit von seinen Wurzeln, dass dies schließlich zu seiner Auflösung führte. Der Verkauf des Netzes an den britischen Konkurrenten Vodafone besiegelte dann endgültig das Schicksal des Unternehmens.


Ähnlich radikale Transformationen sind in Zeiten der Digitalisierung durchaus zu erwarten, sind sie doch weitgehend frei vom Ballast bedeutender physischer Produktionskapazitäten.


Unterschiede zwischen inkrementeller und disruptiver Innovation

Inkrementelle und disruptive Innovation sind zwei verschiedene Welten. Sie erfordern unterschiedliche Managementansätze und Organisationen. Ihre Denkansätze und Kulturen liegen weit auseinander. Sie können kaum unter einem Dach vereint werden. Das ist auch durchaus wörtlich zu verstehen. Die Bemühungen zur Entwicklung disruptiver Innovationen sollte losgelöst von den traditionellen Standorten, sozusagen auf der „grünen Wiese“ wirksam werden. Nur dann besteht eine Chance, sie vor den „Bewahrern“ zu schützen.


Inkrementell: interne Vernetzung – externe Abschirmung


Inkrementelle Entwicklungen sollten vorzugsweise in einer integrierten Organisation von Entwicklung, Fertigung, Marketing und Vertrieb angesiedelt sein. Auch eine räumliche Nähe aller Funktionen ist wichtig. Intensive Vernetzung über alle Stufen der Wertschöpfung ist angesagt, nur dann kann ein reibungsloser Übergang von einer Produktgeneration zur nächsten gewährleistet werden. Die Vernetzung aller Akteure kann sowohl durch physische Nähe als auch durch digitale Kooperationstools erreicht werden.


Hier gilt eher das noch von Schumpeter geforderte Prinzip der Exklusivität von Innovationen: Unternehmen suchen die besten Mitarbeiter auf einem Fachgebiet und binden diese an die Organisation. Die Innovation ist exklusiv und proprietär („closed innovation“) [1].


Disruptiv: Interne Abschirmung – externe Vernetzung


Organisationen mit der Mission einer Disruption des Bekannten sind vorzugsweise auf der „grünen Wiese“ weitab vom täglichen Geschäft anzusiedeln. Hier geht es um Kreativität und Gedankenfreiheit, die Qualität der Ideen zählt mehr als das Einhalten vorgegebener Produktivitätskennzahlen. Große persönliche Freiheiten prägen die Arbeit. Das reicht von flexiblen Arbeitszeiten über Regelwerke bis hin zur Arbeitsplatzgestaltung.


Eine enge Vernetzung mit den Protagonisten des Bestehenden sollte vermieden werden. Ein gutes Beispiel hierfür ist das bereits erwähnte Drama um den Untergang der Siemens-Nachrichtentechnik mit Aufkommen der Breitbandtechnik.


Die enge Nachbarschaft zwischen den wenigen Breitbandentwicklern und einer großen Zahl überzeugter und überaus sachkundiger Entwickler des ISDN-Schmalbandgeschäftes führte zu einer großen Verunsicherung und auch Demotivation derjenigen, die das Neue – die Breitbandtechnik – geschäftsfähig machen wollten. Auf den Fluren, beim Mittagstisch und auch in den Laboren wurde ihnen ständig erklärt, dass man das alles schon vor vielen Jahren überlegt und verworfen habe, weil es einfach nicht zuverlässig funktioniere und es außerdem zweifelhaft sei, ob es überhaupt einen nennenswerten Bedarf an derartigen Übertragungsbandbreiten gebe.


Ähnliches wird auch aus den Entwicklungszentren der großen Automobilunternehmen berichtet, wo tausende von hochbegabten Ingenieuren mit Erfolg an der Weiterentwicklung der Verbrennungsmotoren arbeiten. Die dicht neben ihnen tätigen Entwickler der Elektromobilität haben in einem solchen Umfeld kaum eine Chance.


So problematisch die interne Vernetzung in einem der Disruption gewidmeten Umfeld sein kann, so wichtig und von kaum zu unterschätzender Bedeutung ist die externe Vernetzung. Es gilt, branchenfremde Ideen, neueste Technologien oder – im Zeitalter der Digitalisierung – bisher unbekannte Algorithmen und Anwendungen kennen zu lernen und gegebenenfalls zu nutzen. Unter dem Stichwort „open innovation“ [1] setzt sich dieses Prinzip, vor allem aufgrund der sich ständig verkürzenden Innovationszyklen im Zusammenhang mit der Digitalisierung, zunehmend durch.


Der Aufwand für disruptive Innovationen in den etablierten Großunternehmen steht in einem umgekehrt proportionalen Verhältnis zu ihren langfristigen Auswirkungen. Nach Erfahrung des Autors mit zahlreichen Projekten im Bereich von Forschung und Entwicklung werden in den meisten Unternehmen etwa 95 % der ausgewiesenen Entwicklungsaufwendungen für die Weiterentwicklung bestehender Produktlinien und nur ca. 5 % für „freie“ Entwicklung ausgegeben, für die Suche nach dem Neuen. Thomas A. Edison (1847-1931), einer der größten Erfinder des industriellen Zeitalters, geht sogar noch weiter, er soll einmal gesagt haben: [2]


Genius is one percent inspiration and ninety-nine percent perspiration

So überraschend diese Aussage auf den ersten Blick sein mag, sie wirklich mit Zahlen und Fakten zu belegen ist schwierig bis unmöglich. Was ist das Neue, wo und von wem wird danach gesucht – und mit welchem Aufwand? Das entzieht sich meistens einer genauen Erfassung und vor allem auch Vergleichbarkeit zwischen Unternehmen.


Unbestritten ist allerdings, dass nur ein kleiner Bruchteil der Entwicklungsaufwendungen großer Unternehmen auf das wirklich „Neue“ entfällt. Der weitaus größte Teil ist notwendiges Handwerk zur Pflege und Weiterentwicklung bestehender Produkte. Es ist auch schwer vorstellbar, dass sich in einem Großunternehmen vielleicht zehntausende von Entwicklern auf die Suche nach dem wirklich „Neuen“ machen. Das wäre organisatorisch und finanziell nicht verkraftbar und wohl auch nicht sinnvoll.


Wer trennt hier die Spreu vom Weizen, wer weiß schon, welche Ideen wirklich tragfähig sind? Die Liste von Prognosen und Szenarien, die nie Realität wurden, ist lang [3] – oder salopp ausgedrückt: Die Zukunft ist meistens nicht das geworden, was sie einmal war. Wahr bleibt aber:


Disruptive Innovationen bewegen die Welt – inkrementelle Innovationen bewahren sie.


 

QUELLEN UND VERTIEFUNGSTIPPS


[1] siehe hierzu: Chesbrough, Henry / Vanhaverbeke, Wim / West, Joel: Open Innovation: Researching a New Paradigm, Oxford University Press, 2006, S. 82 - 101


[2] Zitiert als mündliche Bemerkung aus dem Jahr 1903 von Rosanoff, Martin André: Edison in his laboratory, in: Harper’s Monthly Magazine, 9/1932, S. 406


[3] Zwei besonders interessante Beispiele neben zahllosen anderen sind: Bremer, Arthur (Hrsg.): Die Welt in 100 Jahren, mit einem einführenden Essay „Zukunft von gestern“ von Georg Ruppelt, 6. Nachdruck der Ausgabe Berlin 1910, Hildesheim 2010; Kahn, Hermann / Wiener, Anthony: Ihr werdet es erleben, Voraussagen der Wissenschaft bis zum Jahre 2000, Wien, München, Zürich, 1968




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