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Reinventing Organizations einfach gemacht

Aktualisiert: 2. Mai 2023


Geschäftsgebäude aus Glas, in dem man Mitarbeitende beim entspannten Arbeiten sieht

Mit Widerstands-Messungen und systemischem Konsensieren zu selbstorganisierten Teams


Unternehmen, die ihre Strukturen und Prozesse selbstorganisiert gestalten, sind – so die Theorie – erfolgreicher und weisen eine höhere Mitarbeiterzufriedenheit auf als Unternehmen, die auf Hierarchien und starre Arbeitsabläufe setzen. Sie zeichnen sich durch mehr Eigenverantwortung der Mitarbeitenden und durch deren Einbindung in Entscheidungsprozesse aus.


Wie das in der Praxis gelingen kann, hat Angelika Nürnberger als Unternehmerin und CEO bereits 2012 im elterlichen Betrieb bewiesen, ohne das Buch „Reinventing Organizations“ von Frederic Laloux gelesen zu haben. Denn dieses erschien erst drei Jahre später. Sie setzte schon damals auf die Methode des systemischen Konsensierens. Und genau daraus ist inzwischen eine neue Geschäftsidee geworden: ein Start-up namens NEWWORKABLES, bei dem neben New-Work-Trainings auch eine Teamentscheidungs-App eine wichtige Rolle spielt. Aber der Reihe nach ...


in-manas im Gespräch mit Angelika Nürnberger


in-manas: Angelika, du hast mehr als 20 Jahre im elterlichen Betrieb gearbeitet – einem Industrieunternehmen im bayerischen Fichtelgebirge, das sich auf die Herstellung von Pigmentmischungen für die kunststoffverarbeitende Industrie spezialisiert hat. Du warst die erste Frau in der vierten Generation an der Spitze des Unternehmens und für über 100 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter verantwortlich. Und: Du hast dort viele neue Wege beschritten. Damals war der Begriff noch nicht so geläufig wie heute. Doch man kann dich durchaus als New-Work-Pionierin bezeichnen, zumal du deinen Mitarbeitenden mehr Verantwortung übertragen hast, wodurch sie ihre Potenziale entfalten konnten. Die Freude am Tun sollte, ganz im Sinne von Fritjof Bergmann, im Vordergrund stehen. Wie kam es dazu? Und welche Rolle spielte damals die Methode der Widerstandsmessung beziehungsweise des systemischen Konsensierens?


... es ist aus meiner Sicht eines der mächtigsten Instrumente für Unternehmen, die im Rahmen von New Work nachhaltig etwas verändern wollen.

Angelika: Eigentlich begann alles aus der Not heraus. Wir haben bei uns im abgelegenen Fichtelgebirge niemanden für die Leitung des Einkaufs gefunden, der die notwendigen Talente und Fähigkeiten mitbrachte, weder über- noch unterqualifiziert war und zudem in unsere Unternehmenskultur passte. Dazu muss man wissen, dass das Unternehmen sehr viel Wert darauflegt, dass neue Mitarbeitende gut ins Team passen. Im Durchschnitt – das haben wir einmal ausgerechnet – sind unsere Leute 13,6 Jahre bei uns beschäftigt, weil sie gerne bei uns arbeiten. Wir waren schon fast so weit, dass wir einfach den Nächstbesten genommen hätten.


Etwas in mir hat sich allerdings dagegen gewehrt und ich habe gespürt, dass ich einen neuen Weg gehen musste. Also habe ich die Leute aus dem Einkauf zusammengerufen und gefragt, wer sich vorstellen könnte, die Verantwortung für alle Aufgaben im Einkauf zu übernehmen. Da sagte eine Mitarbeiterin von uns, sie heißt Martina Heinrich: „Nicht für ALLE Aufgaben!“ Und da war mir klar: Es musste eine Möglichkeit geben, dass Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter die VOLLE Verantwortung für EINZELNE Aufgaben übernehmen können. Das war eigentlich die Geburtsstunde von New Work bei uns.


in-manas: Was waren dann die nächsten Schritte?


Angelika: Wir haben uns gemeinsam angesehen, wer prinzipiell infrage kommen würde, in den unterschiedlichen Bereichen Verantwortung zu übernehmen. Das heißt, wir haben die Mitarbeitenden gebeten die Aufgaben der Stellenbeschreibung des bisherigen Bereichsleiters auf rote und grüne Karten zu schreiben: ROT stand für Aufgaben, für die sie keine Verantwortung übernehmen wollten, GRÜN stand für Aufgaben, bei denen sie grundsätzlich bereit für eine Verantwortungsübernahme waren. Außerdem sollten sie auch ihre bisherigen Aufgaben auf rote und grüne Kärtchen schreiben. Doch das Ganze ging dann noch einen Schritt weiter. Wir haben uns zwei Wochen später wieder getroffen und sind detaillierter vorgegangen, und zwar mithilfe einer Widerstandsmessung mit einer Skala von 0 bis 10. Diese Messung ist ein Teil des systemischen Konsensierens.

  • 0 stand für: Das mache ich total gerne – das ist meine Lieblingsaufgabe.

  • 1, 2 und 3 bedeutete: Ich kann mir vorstellen, diese Aufgabe zu übernehmen.

  • Aufgaben mit einem Widerstandswert von 4, 5, 6 und 7 standen für: Diese Arbeiten möchte ich nicht gerne ausführen.

  • 8, 9 und 10 standen für einen sehr hohen Widerstand und konnten in etwa so übersetzt werden: Diese Aufgaben möchte ich nie wieder machen bzw. nicht übernehmen.

Smilies in farblicher Abstimmung (Widerstandsmessung 1-10)

Angelika: Das eigentlich Interessante war: Sobald jemand bei bestimmten Aufgaben einen Widerstand von 8 bis 10 kommunizierte, meldete sich jemand und sagte: „Das würde ich sehr gerne machen!“ Es war, als würde sich das System von selbst organisieren. Wir haben das Ganze dann nicht nur auf den Einkauf ausgeweitet, sondern auch auf den Verkauf, weil es Leute gab, die lieber im Vertrieb arbeiten wollten. Ich musste also den Rahmen erweitern, damit wir eine Rochade machen konnten. Und auch da hat sich gezeigt, dass Mitarbeitende, die etwas gar nicht machen wollten, auf der anderen Seite willige Kollegen und Kolleginnen fanden, die diese Aufgaben sehr gerne machen wollten.


in-manas: Blieben wirklich NIE unliebsame Aufgaben übrig? Aufgaben, die alle hassten?


Angelika: Es gab eine Aufgabe, für die sich tatsächlich niemand finden wollte. Eines Tages kam der technische Leiter der Fertigung von Pulverpigmentmischungen zu mir und fragte mich, was er mit einer Aufgabe machen solle, die von 30 Personen insgesamt 28 Mal mit einem Widerstandswert von 10 und zwei Mal mit einem Wert von 8 versehen wurde. Nach langem Hin und Her, wie wir diese Aufgabe an den Mann oder die Frau bringen können, beispielsweise indem wir sie zeitlich auf alle verteilen, wollte ich wissen, was eigentlich mit dieser Tätigkeit nicht stimmt. Und dann haben wir uns mit dem Fachbereichsleiter und den betroffenen Mitarbeitenden zusammengesetzt, um den Grund herauszufinden. Dabei stellte sich heraus, dass diese Aufgabe VOR der ersten Schicht erledigt werden musste und der Widerstand daher rührte, dass die damit Betrauten nicht noch früher aufstehen wollten, zumal die Maschine, die sie bedienen mussten, "klemmte". In Wirklichkeit war es nur ein kleines technisches Detail, das behoben werden musste, um das Problem zu lösen, das zu diesem enormen Widerstandswert geführt hatte.


in-manas: Manchmal hilft es also, die Aufgaben und die dahinter liegenden Prozesse zu hinterfragen und zu analysieren?


Angelika: Genau. Bei der nächsten Messung war der Widerstand bei allen 30 Beschäftigten gleich null. Und dann haben wir das Konzept auf das ganze Unternehmen ausgeweitet. Damals arbeiteten wir noch mit Excel-Tabellen: Wir haben also alle Angestellten regelmäßig befragt und die Aufgaben entsprechend gemessen und erfasst – sowohl vor der Neuverteilung als auch danach.

Und überall konnten die Widerstandswerte gesenkt werden. Interessant war auch, dass sich unsere Mitarbeitenden teilweise für sehr ungewöhnliche „Paketkombinationen“ entschieden haben. So wollte eine Dame vormittags in der Personalabteilung arbeiten und nachmittags im Labor Musterplättchen erstellen.


in-manas: Hatte euer Tool auch schon damals einen Namen?


Angelika: Wir haben unser Tool zur Selbstorganisation von Aufgaben AUFGABENPOOL genannt. Und es ist aus meiner Sicht eines der mächtigsten Instrumente für Unternehmen, die im Rahmen von New Work nachhaltig etwas verändern wollen. Es wird erfahrungsgemäß von allen Beteiligten im Unternehmen schnell verstanden und akzeptiert und lässt sich einfach umsetzen. Durch den Aufgabenpool wird Selbstorganisation fast zum Selbstläufer.

Das Tool und damit die Messung des Widerstands gegenüber Aufgaben haben wir übrigens auch bei der Neubesetzung von Stellen eingesetzt: So wurden bei der Ausschreibung nicht nur die Aufgaben berücksichtigt, die der Vorgänger oder die Vorgängerin zu erledigen hatte, sondern auch jene mit hohem Widerstandswert in der jeweiligen Abteilung. Und damit konnte der Widerstand im gesamten Bereich gesenkt werden, sobald das Rad durch neue Angestellte neu gedreht wurde.


in-manas: Du warst offensichtlich so begeistert von der Methode, dass du 2017, nachdem du das Familienunternehmen aus den unterschiedlichsten Gründen verlassen hast, die NEWWORKABLES GmbH gegründet hast. Und es entstand eine App namens CONCIDE, die Entscheidungen durch systemisches Konsensieren herbeiführt.


Angelika: Genau. Wir haben einfach festgestellt, dass diese Teamentscheidungsmethode zu einer hohen Akzeptanz der Entscheidungen führt und sich deshalb besonders für Organisationen eignet, die selbstorganisiert oder weniger hierarchisch arbeiten wollen. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter erhalten mehr Gestaltungsmöglichkeiten. Darüber hinaus wird die Entscheidungsfindung für alle Mitglieder transparenter und nachvollziehbarer, was eine gute Voraussetzung dafür ist, dass später alle an einem Strang ziehen, besser miteinander harmonieren und die Projekte tatsächlich umgesetzt werden anstatt „vor sich hin zu dümpeln“. Dazu bieten wir unter anderem individuelle Schulungen an. Denn, um einen sportlichen Vergleich zu bemühen: Es braucht nicht nur die Skier, also das Tool oder die App! Es braucht auch viel Training und einen guten Skilehrer oder eine gute Skilehrerin. Deshalb wird in unseren Workshops viel geübt.


in-manas: Vielen Dank, liebe Angelika, für die spannenden Ausführungen. Das Interview landet natürlich auch in unserem Wissenshub für HR und OE, ebenso wie zahlreiche Tools und Buchtipps rund um das Thema Personalarbeit und Organisationsentwicklung.

  • Wer mehr über Angelika Nürnberger und CONDICE erfahren möchte: Hier geht es zur Webpage.

  • Und für alle, die Lust auf mehr Themen rund um Personal- und Organisationsentwicklung haben: Im Wissenshub für HR und OE in unserem INNO-VERSE gibt es genügend Diskussions- & Innovationsraum für aktuelle Themen und Herausforderungen wie diese.

Grüße aus dem INNO-VERSE

Das gesamte in-manas-Team

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